… oder ins Jahrzehnt der Ambivalenz?
Der schwarze Schwan COVID-19 – so betitelt die Gesellschaft für Innovative Marktforschung mbH – kurz GIM – ihre seit gestern veröffentlichte Studie zum Wertewandel durch die Corona-Krise. Dafür haben die Heidelberger Marktforscher im April 10 Tage lang jeweils 100 Personen in Deutschland für je 20 Minuten befragt (CAWI-Methode). Damit also eine repräsentative Fallzahl von 1.000 Interviews erreicht.
Ein bemerkenswertes Werk, das sich durch die Fallzahl, die Interviewdauer und die Konzentration auf den deutschen Markt positiv von vielen aktuellen Trendstudien nationaler und internationaler Beratungsunternehmen abgrenzt. Die Ergebnisse zeigen eine Ambivalenz zwischen Individualität und Gemeinschaft, zwischen Digitalisierung und Rückbesinnung auf das „einfache Leben“, zwischen persönlicher Freiheit und stärkerer Regulierung durch staatliche Organe.
Zu Letztgenanntem fällt mir die aktuelle Diskussion um die geplante „Corona-Warn-App“ ein. Zitat der Marktforscher obiger Studie:
„In Deutschland gibt es generationsübergreifend immer weniger Bedenken gegenüber digitaler Vernetzung, Automatisierung und dem Datenteilen“
Scheint für die Mehrheit also kein Problem zu sein, aus gesundheitlichen Bedenken einen erheblichen Eingriff in die Privatsphäre zu gestatten. Halt, die App wird natürlich vollständig anonymisiert und datenschutzrechtlich einwandfrei funktionieren. Glaube ich. Glaube ich wirklich. Im Moment. In Deutschland. Unter den gegebenen Umständen. Aber was wäre, wenn sich die Covid-19-Situation wieder verschärft? Was könnte eine Regierung mit weniger demokratischem Grundverständnis mit den theoretisch vorhandenen Daten aus einer solchen App tun?
Passend dazu die Studienerkenntnis: Nachbarn kontrollieren das korrekte Verhalten Anderer stärker als vor der Krise. Klar, dient auch dem Gemeinwohl. Aber auch hier heißt es: wachsam bleiben, Nachbarn in Blockwart-Mentalität zu kontrollieren – das hatten wir schon mal.
Zurück zur Ambivalenz, zur Widersprüchlichkeit, denn: allem Verständnis für stärkere staatliche Regulierung zum Trotz wird die persönliche Freiheit seit der Corona-Krise stärker gewichtet als vorher. Outdoor-Urlaube in heimischen Gefilden boomen! Weiter im Text: Das Verlangen nach gemeinschaftlichen Erlebnissen mit anderen ist sehr stark gestiegen. Andererseits wird mehr Wert auf Abstand gelegt aus Ansteckungsgefahr. Stärkere Orientierung hin zum Lokalen steht einem größeren Bewusstsein für das Zusammenarbeiten im Verbund der internationalen Gemeinschaft gegenüber. Bedeutet: Probleme werden nur in der (Welt)-Gemeinschaft gelöst, nicht vom einzelnen Nationalstaat. Nächstes Indiz für die Gegensätzlichkeit der Einschätzungen in der momentanen Lage: Die Deutschen befürchten, dass Online-Shopping als starker Trend bleibt, im Gegensatz dazu wird der genussorientierte Trip an den physischen POS und dort der intensive Austausch beim sozialen Treffen mit anderen Kunden herbeigesehnt.
Sind wir also in der für uns relevante Kategorien des Konsums angelangt. Grundsätzlich wird dort analog des Studienszenarios weniger Wert auf Status, auf teure Luxusprodukte und Designerware gelegt. Es findet eine Rückbesinnung auf die einfachen, ursprünglichen und authentischen Erzeugnisse und hin zur Regionalität statt.
Letzteres – wir zitieren weiterhin die Studie – sorge dafür, dass der Apfel, die Beere vom heimischen Bauern höher geschätzt wird, als die Avocado oder Ananas aus Übersee. Sorge ebenfalls dafür, dass auf dem Grillrost ein „gutes“ Stück Fleisch, möglichst in Bio-Qualität, lande und nicht der Burger aus Schweinehack zu 4,99 € das Kilo. Dass wir bei diesem Punkt an eine Grenze zwischen Wunsch (in einer theoretischen Erhebung) und brutaler Realität an den Kühltruhen der Discounter angelangt sind, wird einer der kommenden Beiträge aufzeigen. Aber – auch das eine Ambivalenz – die Schere zwischen gut verdienenden, bewussten Shoppern und den budgetär stark eingeschränkten Kundengruppen, wird, laut Erwartung der Studienteilnehmer, weiter auseinandergehen.
Lassen wir die Autoren von GIM dazu zu Wort kommen:
„Es wird auf Authentizität und Haltung, auf Auswahl und Individualität ankommen. Sicher scheint: Das ganz reale Treffen im Ladengeschäft, das Riechen, Ansehen und Sich-inspirieren-lassen vor Ort hat Zukunft“.
Dieses Fazit sollte uns Mut dafür machen, den POS mit emotionalen Erlebnis- und Markenwelten, mit einladenden Angeboten und spannenden Vermarktungskampagnen zum Sehnsuchtsort für die Shopper zu machen. Dabei wünsche ich Ihnen im kommenden Jahrzehnt viel Erfolg!