Minimum Advertised Prices – Rettungsanker, Sargnagel oder Sturm im Wasserglas?

Viel wurde in den letzten beiden Wochen geschrieben und diskutiert über „Minimum Advertised Prices“ (MAP). Gemeint sind damit Preisangaben in der Werbung der Händler, die ein vom Hersteller festgelegtes Minimum nicht unterschreiten dürfen. Abseits der fachlichen Fragen zu diesem Thema für mich wieder einmal ein hervorragend geeignetes Beispiel dafür, wie Medien- und Pressearbeit funktionieren.

Um was geht es?

Die Basis für die aktuelle Berichterstattung zum Thema ist eine Mitteilung der EU-Kommission zu den „Leitlinien für vertikale Beschränkungen“. Darin geht es vornehmlich um die Zusammenarbeit in Vertriebs- und Handelsstrukturen und um „Orientierungshilfen für die Selbstprüfung(!) von vertikalen Vereinbarungen“ nach Maßgabe der EU-Wettbewerbsvorschriften.

Nachzulesen ist das alles hier:
https://ec.europa.eu/competition-policy/public-consultations/2021-vber_en

Unter demLink:

Draft revised Vertical Guidelines 

Dort finden wir unter Ziffer 6.1.1 einen Absatz über die “Preisbindung der zweiten Hand”:

Eine vertikale Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise, die sich auf eine bestimmte Spanne bezieht, innerhalb derer der Abnehmer seinen Preis festsetzen muss, steht daher nicht im Einklang mit Artikel 4 Buchstabe a Vertikal-GVO.

Heißt auf Deutsch, eine Preisbindung steht nicht zur Debatte, da nicht im Einklang mit der Vertikal-GVO.

Weiter unten, in Randziffer 174 (gleicher Absatz), entdecken wir dann folgende Formulierung

(174) In ähnlicher Weise können auch Mindestpreisrichtlinien, die es Einzelhändlern verbieten, Preise unterhalb eines bestimmten, vom Anbieter festgelegten Betrags zu bewerben, auf eine Preisbindung der zweiten Hand hinauslaufen, z. B. in Fällen, in denen der Anbieter Einzelhändler dafür bestraft, dass sie letztlich unter den jeweiligen Mindestpreisen verkaufen, ihnen vorschreibt, keine Nachlässe zu gewähren, oder sie daran hindert, mitzuteilen, dass der Endpreis von dem jeweiligen Mindestpreis abweichen könnte.

Auf diesem Abschnitt beruht die gesamte Aufregung um MAP. Kommt aus der Interpretation und medialen Aufbereitung des Wortes „könnten“ im genannten Absatz. 

Zitieren wir dazu die Lebensmittel Zeitung vom 20.08.2021:

Die Revolution versteckt sich in Randziffer 174: Danach „können auch Mindestpreisrichtlinien, die es Einzelhändlern verbieten, Preise unterhalb eines bestimmten, vom Anbieter festgelegten Betrags zu bewerben, auf eine Preisbindung der zweiten Hand hinauslaufen“. Mit dieser Formulierung – „können“ – im Entwurf der EU-Kommission zu den Vertikal-Leitlinien wäre Markenherstellern künftig neben der Festlegung einer „Unverbindlichen Preisempfehlung“ (UVP) auch die Vorgabe eines verbindlichen Mindest-Werbepreises möglich.

Und wie funktioniert das nun in der Presse? Wir sehen und staunen, denn aus dem Wörtchen „können“ entsteht ein medialer Interpretationsspielraum für die Behauptung, dass Mindestwerbepreise für die Werbung künftig vorgegeben werden dürfen (Zitat LZ-Interview Ausgabe 33/21). Steht schwarz auf weiß gedruckt da wie eine unverrückbare Tatsache. Das alles wohlgemerkt auf Basis eines „Draft“, zu dem die EU-Kommission im Moment noch Feedback sammelt, um ihn dann noch einmal zu bewerten, wie wir auf der Website der EU-Kommission erfahren:

Through the consultation, the Commission aims to gather stakeholder feedback on the changes it proposes to address the issues identified in the evaluation of the current rules.

Wie aber bewerten wir als potenziell Beteiligte das Instrument der MAP, unabhängig vom medial aufgebauschten Sturm im Wasserglas? Wichtig dabei: Die Händler legen weiterhin die Preise für ihr Sortiment autark fest. Vorgeben könnten(!) die Hersteller also lediglich einen Preis, den ihre Handelspartner in der Werbung (also vor allem in Handzettel und auf Webseiten)  nicht unterschreiten dürfen, am Regal, am POS aber schon. Es handelt sich also definitiv nicht um eine Preisbindung durch die Hintertür und schon gar nicht um eine gesetzliche Basis für die Vorgabe von Minimal-Abgabepreisen. Die Werkzeuge der Industrie zur Durchsetzung von MAP entsprächen denen, die sie bereits jetzt einsetzen können, falls Händler Preisempfehlungen ignorieren: schlechtere Konditionen oder ein Lieferstopp. Theoretisch. Dass ein FMCG-Anbieter davon Gebrauch macht, dürfte angesichts der stetig wachsenden Handelsmacht mehr als unrealistisch sein. Welcher Markenartikler würde sich willentlich von 10, 15 oder 20 Prozent seines Volumens verabschieden, um einen MAP durchzudrücken? Müsste er doch befürchten, durch andere Brands oder – wahrscheinlicher – Handelsmarken ersetzt zu werden. Die Anzahl der Segmente, in denen der Handel auf Marken kaum verzichten kann, ist überschaubar.

Doch zurück zur Gretchenfrage, zurück zur fachlichen Einordnung von MAP für Händler und Hersteller. Warum entbrennt überhaupt eine hitzige Diskussion zum Thema? Die kommt daher, dass MAP die Wirksamkeit eines taktischen Werkzeugs der Händler zur Kundengewinnung einschränken würden. Schaffen es die Retailer doch seit Jahrzehnten, mit aggressiven „Hammer-“, „Knüller-“ oder „Mega-Angeboten“ unterhalb der vom Hersteller unverbindlich empfohlenen Aktionspreise schnäppchenjagende Shopper auf die Verkaufsflächen zu locken. Die durch niedrig angesetzte Werbepreise verlorenen Margen kompensieren sie dann mit deutlich höher kalkulierten Roherträgen für den restlichen Warenkorb der Kunden.

Für die Hersteller bzw. für ihre Marken birgt diese Praxis zwei maßgebliche Risiken, unabhängig vom MAP:
a) Bei den Shoppern entstehen kognitive Dissonanzen, wenn sie nach Ablauf der Sonderangebotsphase einen höheren Preis bezahlen sollen
b) Die subjektive Preiswahrnehmung für häufig beworbene Aktionsartikel verschiebt sich bei den Kunden nach unten; die Preisstabilität dieser Marken erodiert; vgl. diesen Blog-Beitrag.

MAP könnten dabei helfen, diese Dilemmata abzuschwächen.

Einen erhellenden Beitrag zur Abgrenzung zwischen Mindestwerbepreisen und Preisbindung liefern u. a. die Professoren Sean Ennis und Kai-Uwe Kühn von der renommierten Universität East Anglia (Norwich/GB) in ihrer Arbeit

„Minimum Advertised Prices: How They Differ from RPM*” (März 2021)