Liebe Leser, kennen Sie das? Sie bleiben an einem spannenden Artikel hängen, lassen den Blick mal kurz hierhin, mal dorthin schweifen, die Augen gleiten über die Seite, scannen, bewerten, verwerfen die Beiträge und unterschiedlichen Themen.
Und wundern sich.
So geschehen bei meiner Lektüre vom LEH-Fachblatt Lebensmittel Zeitung vor wenigen Wochen. Auf der Seite „Technologie & Logistik“ verweilte ich einen Moment, machte der Hauptbeitrag dort doch mit dem disruptiven Satz auf: „Hacker nehmen LEH ins Visier“. Darunter abgebildet ein Cybergangster, wie sich die LZ-Redaktion ihn vorstellt: vermummt und mit Kapuze. Das Problem indes ist omnipräsent – wir alle kennen die Beispiele kostenintensiver Datenverluste leidgeprüfter Händler von Media Markt bis tegut. Wissen, dass einige Betroffene tatsächlich siebenstellige Summen „Lösegeld“ zahlten, um wieder Zugriff auf ihre IT-Systeme zu erhalten. Können nur erahnen, welch nervenaufreibende Stunden, Tage, Wochen hinter den Entscheidern in den erpressten Unternehmen liegen. Ich bin sicher: Die Ohnmacht den Datendieben gegenüber macht wütend. Lässt schwanken zwischen Aggression und Frustration. Hinterlässt auf jeden Fall Risse im Bewusstsein der Sicherheit.
Lese ich weiter und frage mich: Ist der Handel gaga? Sind wir alle ein wenig gaga?
Steht doch direkt neben dem Artikel vom Redakteur Maurizio Giuri in dem der Rekordschaden von 223 Milliarden Euro im Jahr 2020 für die deutsche Wirtschaft beklagt wird, dass „Kassenloses Einkaufen mit KI-Technologie nach Europa kommt“, dass „Bargeldlos zahlen im Aufwind ist“ und dass Aldi u. a. auf automatisierte Dispo umstelle.
Selbstverständlich soll dieser Beitrag kein Appell dazu sein, nützliche Technik zu bannen. Angst ist ein schlechter Ratgeber und natürlich helfen IT-gestützte Systeme, viele Abläufe effizienter und leichter zu machen. Dennoch darf, ja muss die Frage gestellt werden, ob dem – oft vorbehaltlosen und unreflektierten – Adaptieren neuer Technologien nicht intensivere Diskussionen um das Thema Cyber-Sicherheit sowie Kosten-/Nutzen-Prüfungen vorausgehen sollten.
Eine weitere Dimension im Diskurs ist die Verantwortung, die wir als Mitspieler im gemeinsamen Wettbewerb für die Gesellschaft haben. Bereits die Frage, wie intensiv wir daran mitarbeiten wollen, Bargeldzahlungen immer stärker durch alternative, digitale Methoden zu ersetzen, verdient eine gesunde und kräftige kontroverse Auseinandersetzung. Zur Zeit können wir im Markt eine nahezu unkritische und naive Bekenntnis zu kontaktlosen IT-gestützten Zahlungssystemen beobachten, die das scheinbar veraltete Bargeldsystem sukzessive ersetzen sollen. Allen, die bereit sind, diesen Trend kritisch zu hinterfragen, sei das Buch vom promovierten Volkswirt und Wirtschaftsjournalisten (Handelsblatt) Norbert Häring empfohlen. Er arbeitet in seinem Werk das Spannungsverhältnis zwischen Offenbarung aller persönlichen Daten durch uneingeschränkte Nutzung von KI-Anwendungen einerseits und wirksamem Datenschutz auf der anderen Seite sehr eindrucksvoll heraus:
Auch wir als Marketing-Profis sollten uns ab und zu die Frage stellen, wie intensiv wir an der „Verglasung“ der Shopper mitarbeiten wollen. Der ganz große Trend ist die digitale Vernetzung von Dingen (IoT) und Systemen. Die folgende Beschreibung der aktuellen Technologie in Amazon-Go-Märkten in der Fachpresse skizziert diese Entwicklung exemplarisch:
„Kunden werden beim Betreten des Marktes von einem kameragestützten System erfasst, das aus jedem Shopper einen Avatar mit individuellen Skelettmerkmalen erstellt. Das System registriert jede Bewegung und Produktentnahme aus dem Regal und fügt die Waren der dem Avatar zugeordneten Rechnung hinzu. … Der Schlüssel zum Erfolg zukünftiger Supermärkte liegt also im intelligenten Einsatz von KI …“
Rundschau für den Lebensmittelhandel, 06. Februar 2022
Nehmen wir diese Entwicklungen doch als Anlass, um bei allem Entwicklungstempo neuer Technologien auch einmal innezuhalten und uns einige Fragen dazu zu stellen:
Wie ethisch ist die Übernahme von kompletten Vermarktungs-Prozessen durch eine KI perspektivisch?
Wie viel Entscheidungs-Befugnis wollen wir der KI-gestützten Systemen überlassen – wo ist die Grenze zur Übernahme von lebenswichtigen Entscheidungen?
Wie intensiv wollen wir an der Entwicklung zum komplett gläsernen Shopper mitarbeiten (die insbesondere den „Big-Data“-Anbietern wie Facebook, Amazon, Microsoft, Intel, IBM usw. nutzt)?
Ich wünsche Ihnen dafür eine inspirierende Reflexion!