Deutscher Handelskongress 2021 / Teil 3: Von kommunaler Aktivierung bis zu nachhaltigem Wirtschaften

Der Spannungsbogen des zweiten Kongresstags reichte von der politischen Keynote mit u. a.  Norbert Walter-Borjans bis in die kunterbunte Welt des Community Commerce auf der Videoplattform TikTok. Auch die selbstkritische Reflexion des Handel(n)s kam durch intensive Gespräche und Wortbeiträge zum Thema Nachhaltigkeit nicht zu kurz.

Politik im Dialog

Ohne diplomatisches Geplänkel brachte der Präsident des HDE, Josef Sanktjohanser die Gemengelage seines Verbands im Verhältnis zur großen Koalition auf den Punkt. Der Handel werde von der Politik nicht mehr gehört, es gebe eine zunehmende „Ablehnungsrhetorik“ gegenüber Vorschlägen und immer die gleichen Statements ohne Handlungsfolgen.

Zeigte sich enttäuscht von dem
Einsatz der Groko für den Handel:
Josef Sanktjohanser, HDE

Mit dem Hinweis, gegenüber der neuen Koalition offen zu sein und Hoffnung auf Besserung zu hegen, übergab er an Norbert Walter-Borjans, scheidender Bundesvorsitzender der SPD. Den Wunsch der HDE-Spitze, auch weiterhin im Dialog mit der (künftigen) Regierung zu bleiben, erwiderte der der Sozialdemokrat höflich. Fast im gleichen Atemzug mahnte er die drohende Verödung der Innenstädte an. Es müsse ein ordnungspolitischer Rahmen her, der es den Marktteilnehmern ermögliche, sich frei zu entfalten. Bestandteil der Innenstadtoffensive sollte neben der Fortsetzung finanzieller Hilfen für die Citys (250 Mio. Euro) ein „Level Playing Field“ zwischen Online- und Offlinehandel sein, was nichts anderes bedeutete, als für (kleinere) stationäre Händler identische Voraussetzungen zu schaffen, wie für die Online-Dickschiffe Amazon & Co. Zur weiteren Stützung der Innenstadt-Vielfalt seien aber auch die Kommunalpolitik und – nicht zuletzt – die Gewerbetreibenden selbst als proaktive Gestalter gefragt.

Plädiert für stärkeres Engagement
zur Belebung der Innenstädte:
Norbert Walter-Borjans
Quelle: HDE

Nachdem er sich für eine Impfpflicht in bestimmte Berufsgruppen ausgesprochen und die Ergebnisse der Ampel-Koalitionsverhandlungen für die Woche ab dem 23.11. versprochen hatte, wurde der beliebte SPD-Chef verabschiedet und die Bühne im Konferenzraum für Christoph Eltze, CEO von Rewe Digital, freigegeben. Sein Vortragstitel: „Digitalisierung im Handel. Beschleunigt.“.

Der Digitalchef vom Kölner Retail-Riesen verdeutlichte, wie stark sich der LEH durch die digitale Transformation verändert habe und welche Rolle der „Brandbeschleuniger“ Corona dabei spielte. Neue Dienstleister wie Flink, Gorillas, knuspr, HelloFresh oder GooglePay und ApplePay etc. sorgten dafür, dass sich die Einkaufsgewohnheiten rasch veränderten. „Quick-Delivery“, die Lieferung fertiger Mahlzeiten autonome Märkte und die Abwicklung von Order- und Bezahlvorgängen via Smartphone seien erlebbare Anzeichen für einen Wandel im Handel. Wie sich die Ausrichtung der etablierten LEH-Unternehmen in diesem Rahmen verschiebt, machte Eltze am Beispiel vom weltweit größten Retailer, Walmart, mithilfe der folgenden Schaubilder deutlich:

Walmart dreht ein großes Rad
„STORES“ sind nur ein kleiner Teil davon
Quelle: Rewe
Der US-Gigant investierte stark in seine IT
Quelle: Rewe


Dem Exkurs nach Übersee folgten Einblicke in die Rewe-Welt, in der es vergleichbare Tendenzen wie beim Handelskonzern aus den USA gibt. Konkret präsentierte Eltze die folgenden Punkte:

  • eFood
    Rewe ist Marktführer im deutschen eFood Markt (u. a. mit „Weinfreunde“, „ZooRoyal“, Koop mit Flink) … in diesem Sektor sieht das Unternehmen noch viel Potenzial
  • Digitalisierung stationärer Märkte
    Beispiel: der im Oktober 2021 eröffnete Rewe „Pick & Go“-Markt in Köln. Weitere digitale Anwendungen seien in der Beobachtungs- und Testphase
  • Neue Geschäftsmodelle
    Unter anderem betätigt sich Rewe als Marktorscher und Tech-Dienstleister für andere Händler
Digitale Dienste im stationären Outlet:
entscheidend sind Effektivität und Effizienz
Customer Journey mit digitaler Begleitung:
Pick & Go Markt in Köln
Mächtiges Datenvolumen liefert
Markterkenntnisse für die Industrie:
Mafo-Services von Rewe
Digitale Anwendungen für die
gesamte Customer Journey …
… und für andere Händler.


Google@Tchibo

Google ist nicht nur ein marktbeherrschender Player im Netz und damit ein unverzichtbarer Partner für Omnichannel-Konzepte, sondern mittlerweile auch ein omnipräsenter Bestandteil  beim Deutschen Handelskongress. Im Rahmen von mehreren Vorträgen und als Co-Laudator bei der Preisverleihung zum ZukunftHandel-Award war die Firma aus Mountain View aktiv vertreten. Damit ist klar: Der HDE hat sich entschieden, Google als Partner des Handels nicht nur willkommen zu heißen, sondern aktiv zu integrieren. Die Datenmacht des kalifornischen Internetgiganten sorgt indes bei vielen deutschen Unternehmen – so auch im Handel – für Ambivalenz. Einerseits möchte man das quasi-Monopol von Google durch die Bereitstellung eigener Daten nicht noch weiter festigen, andererseits benötigt man die Suchmaschine für professionelles Digitalmarketing. Ein Dilemma. Keine Vorbehalte gegen den Daten sammelnden Konzern hegt man offensichtlich im Norden der Republik, beim Kaffee- und Nonfood-Anbieter Tchibo. Man müsse offen sein, um mit Google zu arbeiten, dann sei eine vertrauensvolle und ehrliche Kooperation möglich, so Wibke Bachor, Managing Director Vertrieb der Tchibo GmbH. Gemeinsam mit Dr. Jannika Bock, Director Retail Google, zeigte sie auf, wie „Gemeinsam Handel neu denken“ (Vortragstitel) gelingen kann.

Auf Basis von Kundenbefragungen, so Bock, stellte das Marketingteam von Tchibo fest, dass Omnichannel-Kunden die wertvollsten sind. Logische Schlussfolgerung: Für eine effektive kanalübergreifende Strategie sei eine enge Zusammenarbeit der unterschiedlichen Abteilungen im Unternehmen unabdingbar. Der „Footfall“ in den Tchibo Filialen werde durch die konsequente Integration von Google als Partner beim Vermarkten signifikant erhöht. Die Kooperation mit der Suchmaschine bezeichnete die Sales-Managerin dabei als Win-Win-Modell: Tchibo gebe die Learnings aus dem direkten Kundenkontakt an Google weiter, Google seinerseits helfe bei der digitalen Ansprache der Kunden, insbesondere der älteren Klientel, die die Search-Tools sehr häufig nutzten.

Positioniert sich als netter Partner
für Industrie und Handel:
Dr. Jannika Bock, Director Retail Google

Ceconomy – die Krise als Chance

In seiner Keynote über die Zukunft des CE-Geschäfts zählte Dr. Karsten Wildberger die gleichen Treiber auf, wie es kurz zuvor Rewe-Manager Eltze getan hatte. Für den CEO der Ceconomy AG (MediaMarktSaturn Gruppe) rekrutiert sich das Wachstum seines Unternehmens künftig aus:

  1. klassischen CE-Produkten

  2. Technologische Trendsetter (E-Health, Smarthome, Elektromobilität usw.)

  3. Services und Solutions (Zusatzdienste, Installation, Reparaturen usw.)

Die große Herausforderung sieht Ex-EON-Mann Wildberger in der operativen Umsetzung der Verzahnung von Online- und Offlinewelt. Ziel müsse das attraktive Einkaufserlebnis über alle Kanäle hinweg sein – dies sei eine „Riesenchance für stationäre Märkte“.

Die (Corona-)Krise ordnete er als gute Gelegenheit ein, um der Digitalisierung einen beschleunigten Schub zu geben – verbunden jedoch mit der großen Herausforderung des sich verändernden Verbraucherverhaltens in der aktuellen vierten Welle der Pandemie. Als Schlüssel für ein funktionierendes Innenstadt-Leben nannte er zuallererst ein funktionierendes Gemeinwesen aus Politik, Handel, Gastronomie, Dienstleistern und Bürgern.

Konsequente Kundenorientierung
als Schlüssel für künftigen Erfolg:
Dr. Wildberger, Ceconomy

Mahnung zu nachhaltigem Wirtschaften

Für eine Abkehr vom Streben nach wirtschaftlichen Wachstum argumentierte Prof. Dr. Maja Göpel in ihrem aufrüttelndem Vortrag „Nachhaltiger Konsum von morgen“. Die streitbare Verfechterin von mehr Nachhaltigkeit im ökonomischen System plädierte dafür, eine neue Perspektive einzunehmen: Weg von „Customer Centricity“ hin zur zentralen Betrachtung des Ökosystems, denn dieses sei die Grundlage für Versorgungssicherheit. Der Übergang zu wirklich nachhaltigem Wirtschaften (Nachhaltigkeitstransformation) sei geschafft, wenn kein einziges Produkt mehr den Planeten schädige – weder bei Erzeugung, noch bei Ge-/Verbrauch oder Entsorgung. Dafür sei die Mitarbeit des Handels unabdingbar.

Vor dem Hintergrund der Vorträge von Managern aus Handel und Industrie, die im Rahmen des Kongresses doch sehr klar das (eigene) wirtschaftliche Wachstum im Fokus hatten, weil sie daran gemessen werden, klangen die Worte von Prof. Göpel fast wie weltfremdes Wunschdenken. Betrachtet man sich aber die bereits heute sichtbaren Folgen des Klimawandels und den miserablen Zustand lebenswichtiger Ökosysteme, scheint eine Umkehr zu regenerativem Wirtschaften in der Tat alternativlos zu sein.

Wie ein digital gestütztes Ökosystem aussehen könnte, zeigte Göpel mit diesem Schaubild:

Digitales Ökosystem:
Daten als Antriebsrad für
nachhaltiges Wirtschaften

Im sich anschließenden „Deep Dive Nachhaltigkeit“ diskutierte die Nachhaltigkeitswissenschaftlerin mit Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt von der Uni Rostock, Klaus Müller (Vorstand Verbraucherzentrale), Florian Scholbeck (Aldi Nord) und Mimi Sewalski, Geschäftsführerin der Avocado Store GmbH. Die Moderation übernahm wieder Dunja Hayali.

Essenz des sachlichen Austauschs der Umwelt-, Verbraucher- und Handelsexperten: Der gesellschaftliche Wandel zu mehr Nachhaltigkeit sei in vollem Gange. Es gebe ein Bewusstsein bei allen Marktbeteiligten (Erzeuger, Distributeure, Verbraucher), dass sich etwas ändern müsse. Ohne klare politische Leitlinien werde der Wandel aber nicht schnell genug greifen. Als Beispiel nannte Aldi-Manager Scholbeck den „Siegelwahnsinn“. Die Vielzahl von 35 Biosiegeln sei beeindruckend, würde den Shopper aber verwirren. Hier sollte die Politik klarere Vorgaben machen.

Blick auf Europa: Änderung des Konsumentenverhaltens

Im Praxisforum Marketing präsentierte Oliver Schmitz, Head of Retail bei GfK, die Ergebnisse einer europäischen Studie mit 30.000 Interviews in 25 Ländern zu aktuellen Verbrauchertrends.

Insgesamt neun global wesentliche Lebensstile und -einstellungen filtrierten die Forscher aus den Erhebungen:

Von Umweltbewusstsein bis Erlebnissuche:
die Top-Trends in Europa

Zwei beispielhafte Ergebnisse:

1. Emotionalität und Erlebnisse – gerade im Innenstadt-Handel – werden für die Kunden wichtiger (als es Preisangebote sind)
2. Omnichannel-Einzelhändler sind erfolgreicher bei der Kundengewinnung als reine „Pure Players“

Gab Einblicke in aktuelle
Entwicklungen des Handels:
GfK-Manager Schmitz


Erfahren Sie im abschließenden Teil der Beitragsserie zum Deutschen Handelskongress in den kommenden Tagen u. a. wie genau der Multichannel-Prozess bei Bruno Banani optimiert wurde, warum Tik Tok eine Bereicherung des Kommunikations-Mix sein kann und mit welchen unternehmerischen Hürden Ebay und Amorelie in Deutschland zu kämpfen haben.