Schach der Marke: die Diversifikations-Zwickmühle!

Hobby-Schachspieler kennen sie aus leid- oder freudvoller eigener Erfahrung: die Zwickmühle. Ähnlich wie beim Mühle-Spiel ist bei diesem seltenen Motiv eine Figur in der Lage, durch einfaches Abziehen den Gegner im Wortsinne „in Schach“ zu halten. Die etwas sperrige Überschrift des heutigen Beitrags soll bildhaft das Dilemma verdeutlichen, in dem sich Marken in vielen Kategorien befinden. Unter Diversifikation versteht die Marketingtheorie die horizontale Dehnung des Portfolios in Richtung neuer Geschäftsfelder mit neuen Marken oder Sub-Marken. Die Abgrenzung zu einem „neuen“ Marktsegment erfolgt dabei nicht messerscharf sondern fließend, je nach eigener Definition. Beispiel: war der (erfolglose) Ausflug von Nivea ins Reich der dekorativen Kosmetik eine Dehnung der Marke in ein neues Segment oder könnte man es noch als Line-Extension im angestammten Markt der Beauty-Produkte einordnen? Die Tendenz geht zur Markenexpansion (Dehnung) mittels Transfer der Marken-Kernwerte in einer für die Marke neuen Kategorie. Erklärt auch vom Standpunkt der Markenführung, dass Nivea als Marke für die „sanfte Pflege“ per se in einer der Kategorie, die von Attributen wie schönem Aussehen, perfekter Optik usw. lebt, einen schweren Stand hatte.

Zur Wiederholung für alle Marketing-Akademiker und als Anschauung für alle Quereinsteiger soll diese Grafik dienen:

Das Konstrukt des klassischen Markenartikels stützt sich darauf, dass er immer die identischen Eigenschaften aufweist, eine einheitliche (hervorragende) Qualität besitzt und in einem stabilen Preiskorridor überall erhältlich ist. In die Zwickmühle gerät eine Marke dann, wenn ihr typisches Attribute-Set verhindert, dass sie auf Herausforderungen im Markt flexibel reagieren kann. Damit meine ich die schwierige Situation von etablierten Brands, welche sich neuen Playern gegenüber sehen, die das angestammte Marktsegment mit innovativen Konzepten aufmischen. Klingt etwas theoretisch, deshalb hier einige – willkürlich herausgegriffene – aktuelle Praxisbeispiele:

1. Gewürze und Gewürzmischungen

Ein einigermaßen starrer Markt, jahrzehntelang beherrscht und scheinbar zementiert durch die beiden etablierten Platzhirsche Maggi und Knorr bzw. die Fuchs-Gruppe im Gewürzregal. Und dennoch haben es drei Studenten mit einer frischen Idee geschafft, das Segment der Gewürzmixturen aufzumischen. Just Spices ist in den vergangenen fünf Jahren zu einem Unternehmen mit einer breiten Produktpalette und mehr als 70 Mitarbeitern geworden. Mit bunten Verpackungen und einer Rezept-Community im Netz hat es die neue Marke geschafft, den Gewürzmarkt zu emotionalisieren.

„Gegen versemmeltes Brötchen-Einerlei“
Typische Gewürzmischung von „Just Spices“
Quelle: Unternehmens-Website

2. Tiefkühlpizza

Analog zu den Gewürzmischungen erlebten wir lange Zeit eine oligopolistische Wettbewerbssituation. In den Truhen des Handels waren fast ausschließlich Erzeugnisse von Dr. Oetker und Wagner zu finden, flankiert von den jeweiligen Handelsmarken der Retailer. Wie in vielen anderen Segmenten des LEH auch hier: vergleichbares Angebot mit ähnlichen Geschmacksrichtungen und identischen Größen zu Preisen, die häufig zu Angebotszwecken drastisch gesenkt wurden. Vor gut vier Jahren kam mit Gustavo Gusto eine neue Marke bei Rewe in die Tiefkühlung. Mittlerweile hat sie die TK-Kategorie grundlegend verändert und startet ihre erste Fernsehkampagne. Die Traditionsmarken regieren mit neuen Produktkonzepten, um dem Herausforderer zu folgen.

Die Margherita – „Mutter aller Pizzen“
laut Gustavo Gusto.
Quelle: Unternehmens-Website

Weitere Beispiele finden wir in anderen Segmenten ebenfalls; man denke an Fruchtaufstrich („Glück“), Bio-Riegel („Footloose“) oder – mit einem etwas anderen Vertriebskonzept – „Fitvia“ im Segment Tee

Was macht es für die etablierten Brands so schwer, diese Trend-Nischen rechtzeitig zu besetzen? Warum müssen Newcomer aufzeigen, wo der Markt noch Potenzial bietet? Haben die Traditionsmarken „Ihre Hausaufgaben nicht gemacht“, wie es ein Händler im Gespräch neulich formulierte? Aus der Perspektive der Handelsmanager mag das zutreffend sein, so einfach ist es aber nicht. Selbstverständlich kennen die Marketingmanager der FMCG-Branche ihre Märkte genau. Natürlich wissen sie, welche Bedürfnisse die Kunden haben und an welchen Optimierungsstellschrauben gedreht werden muss. Allerdings ist der Bewegungsspielraum für die Marke eingegrenzt. Das „Gesicht“ des Markenartikels sollte sich nicht zu schnell und nicht zu radikal verändern, um die – ja in großer Zahl vorhandenen – treuen Kunden nicht zu verunsichern. Genau hier liegt nun die Krux. Wie können bewährte Marken neue Trends aufgreifen bzw. sogar setzen, wenn ihnen das eigene Profil nicht den erforderlichen Veränderungsrahmen bietet? Bleiben wir beim Beispiel Tiefkühlpizza. Mit vergleichbarer Tonalität und Optik einer Gustavo Gusto Pizza hätten Dr. Oetker und Wagner ihren Marken eine Radikalkur verordnet und das Risiko in Kauf genommen, loyale und zufriedene Stammkunden zu verlieren. Was also ist zu tun, um dieser Zwickmühle aus Kontinuität in der Markenführung einerseits und Besetzen von Trends andererseits zu entkommen? Damit sind wir beim Stichwort Diversifikation. Bedeutet, eine neue Marke zu kreieren. Bedeutet freilich auch, damit das dünne Eis aus hohem finanziellen Invest für den Markenaufbau in Verbindung mit der – durchaus realistischen – Gefahr des Scheiterns zu betreten. Den Schritt haben einige der großen Markenartikler schon gewagt, allerdings weder in der Konsequenz noch in der Breite, die erforderlich wäre. Zu oft bieten Händler zur Profilierung branchenfremden Start Ups eine Distributionsplattform, weil ihnen von Seiten der Markenartikelindustrie keine innovativen Konzepte geboten werden.

Beispiele für gelungene Diversifikation mit neuen (Sub-)Marken liefern u. a. die Kosmetikriesen Procter & Gamble oder Henkel. Orientiert sich P&G mit dem Label „King C. Gillette“ an seinen Wurzeln und liefert mit der neuen Range ein Angebot für die Rasur als „bewusstes Ritual“ (O-Ton), bietet die „Nature Box“ des Düsseldorfer Mischkonzerns zertifizierte Naturkosmetik, bestehend aus einem Sortiment veganer und nachhaltig produzierter Haarpflegeprodukte.

Sidestep von Gillette:
„King C. Gillette“ für die Barber Shop Dudes.
Quelle: Unternehmens-Website
Vegan, nachhaltig und irgendwie „hipp“:
das „Nature Box“ Sortiment von Henkel.
Quelle: Unternehmens-Website

Zwar sind diese Beispiele jeweils eher Portfolioerweiterungen in ähnliche Segmente wie das der Stamm-Marken und daher im strengen Sinne der Definition eher Marken-Differenzierungsstrategien denn echte Diversifikationen. Der Schritt geht aber in aus Sicht der FMCG-Branche genau in die richtige Richtung, um die Barrieren gegen den Eintritt disruptiver neuer Wettbewerber zu erhöhen.

Einen ähnlichen Schritt wie Henkel geht auch der Wettbewerber Garnier mit der Sub-Brand „Wahre Schätze„, jedoch weniger konsequent. Findet sich der Absender Henkel bei der „Nature Box“ nur ganz dezent auf der Packungsrückseite, versammelt sich das „Wahre Schätze“-Sortiment visuell gut erkennbar unter dem Dach der Garnier-Brand:

Me too von Garnier:
festes Shampoo, angezeigt als „Revolution“.
Quelle: LZ