Wunsch und Wirklichkeit – Future Food

Wer erfolgreich Neuheiten schaffen und vertreiben möchte, sollte die inneren Werte, etwa den klimatischen Fußabdruck und die Auswirkungen der Produkte auf das menschliche Mikrobiom, glaubhaft sichtbar machen, rät das Gottlieb-Duttweiler-Institut im aktuellen „European Food Trends Report“.

Ein aufrüttelndes Zitat aus der Studie lautet:

„Unser Mikrobiom verkümmert. In unserem Innern spiegelt sich das Außen. So wie der Artenreichtum um uns herum zurückgeht, so schrumpft auch die Vielfalt in unserem Mikrobiom. Heute besitzen Menschen in industrialisierten Gegenden nur noch halb so viele Mikrobenarten wie Menschen, die kaum mit der westlichen Zivilisation in Berührung gekommen sind. Viele nützliche Mikroben im Darm kommen kaum oder gar nicht mehr vor. Es gibt neben der Umweltzerstörung auch eine «Inwelt»-Zerstörung, die von Mikrobiologen mit vielen Zivilisationskrankheiten und modernen Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht wird.“

Ganz unabhängig von der Frage, wie unsere Nahrung erzeugt und verarbeitet wird. stellt der Bericht aber auch die Notwendigkeit der Veränderung von Konsumgewohnheiten heraus:


„Wir essen tendenziell zu viel vom Falschen und zu wenig vom Richtigen, haben zu oft tierische Proteine auf dem Teller, werfen zu viel Essen weg, verpacken zu viele Produkte in Plastik und importieren zu viele Lebensmittel aus dem fernen Ausland.“

Das ist für die Gesamtheit der westlichen Gesellschaften sehr treffend formuliert und beschreibt in einem Satz die Probleme im Umgang mit Lebensmitteln. Vor diesem Hintergrund müssen auch wir, die Vermarkter, uns hinterfragen. Welche Rolle wollen wir spielen bzw. sollten wir spielen und mit wir meine ich alle, die von der Wertschöpfungskette im Food Segment leben: Erzeuger, Distributeure, Händler und Dienstleister. Doch dass der Markt für einen Paradigmenwechsel schon bereit ist, scheint fraglich. Beispiel LZ: Im gleichen Heft, in der Auszüge des Food-Reports abgedruckt sind (Ausgabe 44 vom 05.11.2021), werben Anzeigen für u. a.:

Back-/Schokoladenwaren (Lamberts)

Pasta (Barilla)

Zuckerwaren (Haribo)

Mais-Chips, Fertigsaucen (Importhaus Wilms)

Schokolade, Pralinen (Ferrero)

Saucen (Develey)

Gezuckerten Fruchtjoghurt, Süße Brotaufstriche (Mövenpick)

Konfitüren (D‘arbo)

Das sind ausnahmslos Produkte mit (zu) viel Zucker oder reichlich ‚leeren‘ Kohlenhydraten und/oder Konservierungsstoffen, fast alle verpackt in Plastik. Eine Anzeige für Fleisch der Firma Tönnies (bekannt durch Massentierhaltung und Billigfleisch) rundet das Spektrum ab. Nehmen wir uns also noch einmal den Satz aus dem Food-Report vor und lassen ihn wirken:

„Wir essen tendenziell zu viel vom Falschen und zu wenig vom Richtigen, haben zu oft tierische Proteine auf dem Teller, werfen zu viel Essen weg, verpacken zu viele Produkte in Plastik und importieren zu viele Lebensmittel aus dem fernen Ausland.“

Im Bewusstsein dieser Mahnung gelingt es, das Fazit der Schweizer Forscher besser einzuordnen, welches in drei denkbare Zukunftsszenarien gefasst wird:

  1. Stubborn Optimism: Das Foodsystem verändert sich im Kern nicht, alle Stufen des Wertschöpfungsnetzwerks werden jedoch smarter, effizienter und produktiver. Mit der richtigen Technologie sind alle Probleme lösbar, so das vorherrschende Narrativ.
  2. Radical Regeneration: Die Deglobalisierung des Foodsystems steht im Zentrum. Ziel ist nicht die Ernährungssicherung sondern die Ernährungssouveränität. Es wird nur angebaut und produziert, was unter den gegebenen Bedingungen Sinn ergibt und den Bedürfnissen der regionalen Bevölkerung entspricht. 
  3. Hard Regulations: Die Leitlinien für das gesamte Wertschöpfungsnetzwerk werden von einer zentralen Kontrollstelle vorgegeben. Dies kann ein Staat, eine Organisation, ein privates Unternehmen oder eine künstliche Intelligenz sein, die das Foodsystem und damit auch den Speisezettel und die Gesundheit ihrer Bevölkerung kontrolliert

Nun fragen wir uns, welches Szenario könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit Realität werden? David Bosshart, ehemaliger CEO vom Duttweiler Institut, vermutet eine Mischung dieser Zukunftsvisionen.

Das klingt plausibel, die Frage ist allerdings, wie schnell die Marktteilnehmer auf die Dynamik sich verändernder Rahmenbedingungen reagieren müssen. Wie bald Regierungen sich genötigt fühlen, restriktivere Maßnahmen zu ergreifen, weil problematische Entwicklungen bei der Bedarfsdeckung ihrer Volkswirtschaften dies erfordern. Beispiel: Überbevölkerung. Wie lassen sich in einigen Jahren die dann 10 Milliarden Menschen nachhaltig, CO2-neutral und vollwertig ernähren?

Glauben wir als Praktiker daran, dass sich der Markt in diesem Bereich selbst regulieren kann und wird? Dass die „unsichtbare Hand“ dafür sorgt, dass Erzeuger, Produzenten, Absatzmittler und Medien von selbst – frei nach dem Food Report – „weniger vom Falschen und mehr vom Richtigen“ anbieten? Sicher, gerade in den Industrienationen findet derzeit ein Umdenken statt. Es gibt bereits viele neue spannende Food-Konzepte, die hohen Nachhaltigkeitsstandards entsprechen und auch die marktbeherrschenden Konzerne denken bei neuen und etablierten Marken um, bieten u. a. vegane Alternativen zu tierischen Produkten, fair gehandelte Erzeugnisse und Bioware an. Diese Segmente wachsen – immerhin. Allerdings finden wir – z. B. im aktuellen Kaufland-Wochenprospekt – weiterhin Angebote wie dieses: 1 kg Schweinefleisch zu 2,99 €.

Machen wir uns also nichts vor, es ist bis auf weiteres davon auszugehen, dass …

… fast keine Zeitschrift Anzeigenkunden abweist, die sich mit ihrem Angebot im legalen Rahmen bewegen

… die wenigsten Agenturen Aufträge für „schädliche“ Produkte ablehnen, so lange sich diese Erzeugnisse legal im Warenverkehr befinden

… es sich kaum ein Händler nehmen lässt, minderwertige Ware aus konventioneller Massenproduktion anzubieten, solange es dafür eine Nachfrage gibt, die ihm Roherträge sichert. Kein Retailer wird freiwillig Umsatzbringer auslisten, ohne das die Politik dafür die Grundlage schafft (Preisverhandlungsrunden einmal ausgenommen).

…die wenigsten Konsumenten freiwillig auf Schokolade, Zuckerwaren, billiges Fleisch oder leere Kohlenhydrate (aus Backwaren, Pasta & Co) verzichten, nur aus der Einsicht heraus, „Schrott“ zu essen.

Und nun?

Wir bleiben also gespannt, in welche Richtung der drei möglichen Zukunftsszenarien das Praxispendel ausschlagen wird. Reicht massive Aufklärung? Brauchen wir doch eine Idee mehr „Nudging“ seitens der Politik? Wird es Sanktionen und Verbote geben müssen? Oder zeichnet sich gar eine ganz andere Entwicklung im Bereich Lebensmittelerzeugung und -konsum ab?

Auf eine Diskussion mit Ihnen freue ich mich; schicken Sie Ihre Meinung, Statements oder aktuellen Erkenntnisse gern an

gernot@ugw.de

Hier der Link zum Food Report des GDI: