Gerade jetzt, mitten in der hausgemachten Corona-Hysterie, fragen sich viele Marketingentscheider, ob sie Haltung annehmen sollten. Fragen sich, ob ihre Marken zusätzlich zur sauberen Positionierung noch einen „Purpose“ benötigen. Im Gegensatz zu vielen anderen Marketing-Buzz Words gefällt mir der deutsche Begriff „Haltung“ dafür übrigens besser. Drückt für mich schneller aus, dass es um ein Ver-Halten zu einem bestimmten Thema geht, weniger um den ureigenen Produktzweck.
Zahlreiche Erhebungen bereits in der Prä-Corona-Ära kamen zum Ergebnis, dass eine Haltung zu aktuellen gesellschaftlichen Themen für Marken durchaus positiv sein kann. Insbesondere die mediale Berichterstattung über diese Erhebungen verstärkte diesen Eindruck. In der Kommunikationsbranche gehen die Meinungen dazu auseinander.
Warum es sinnvoll ist, sich mit solchen Erhebungen kritisch auseinanderzusetzen, zeigt das Beispiel der YouGov-Studie 2019.
Die Berichterstattung dazu kommt zum Schluss:
„Konsumenten bevorzugen Brands mit Purpose“!
Könnte man als Marketingentscheider also unreflektiert folgern: das brauchen wir auch unbedingt. Schauen wir uns die entsprechende Untersuchung von YouGov also genauer an. Diese basiert auf Fragen an ein bevölkerungsrepräsentatives Sample von knapp 68.273 Personen ab 18 Jahren. Finden wir dort also Ergebnisse, wie die folgenden:
Was sagen uns diese Ergebnisse? Dass nach Meinung der Befragten Unternehmen ausdrücken dürfen, wie sie „zu einem Thema stehen“. Dass eher Marken gekauft werden, die Ansichten vertreten, mit denen man einverstanden ist. Und schließlich, dass mehr als jeder Zweite „nur Produkte von Unternehmen kauft, deren Werte und ethische Ansprüche mit den eigenen übereinstimmen“. Soso, denke ich mir. Denke auch gleich an die Werte und ethischen Ansprüche von Unternehmen der Mineralöl-, Automobil- und Textilindustrie, bei denen nicht nur knapp jeder Zweite einkauft. Wie passt das zusammen? Spricht es für fragwürdige Werte und geringe ethische Ansprüche der Käuferseite? Wie in diesem Blog vor einigen Wochen in einem anderen Zusammenhang bereits gezeigt wurde: nicht unbedingt. Sollten Sie als Marketing-Profi wissen und beachten: Sehr häufig stimmen – die politisch korrekten – Aussagen der Shopper in Befragungen mit dem realen Einkaufsverhalten nicht überein. Nicht selten widersprechen sich beide sogar. Um es anschaulich zu formulieren: In Umfragen fordern die Probanden eine ethisch einwandfreie Haltung von Marken zu aktuellen Themen. Greifen am POS dann überwiegend doch zum Billigshirt statt zur nachhaltig produzierten Öko-Ware.
In der Krise: Charity oder Markenkommunikation?
Was also nun tun, mitten in einer der schwersten Wirtschaftskrisen der letzten 100 Jahre? Mit Rücksicht auf die durchaus prekäre Situation vieler Menschen die geplanten Vermarktungskampagnen aussetzen und auf Haltungskommunikation mit sozialen Botschaften umschwenken? Oder unbeirrt den Werbedruck mit Angebot orientierten Inhalten hoch halten? Um es plastisch zu machen: Stopp aller kommerzieller Kampagnen und 120 Millionen Dollar in soziale Aktivitäten stecken wie Coca-Cola oder Werbebudget und –druck erhöhen wie Procter & Gamble?
Geteilte Meinungen auch zu dieser Frage in unserer Zunft. Während die eine Seite nicht an einen nachhaltigen Effekt von Haltungskampagnen in der Krise glaubt, sind andere überzeugt, der Shopper werde sich merken, wer sich in Krisenzeiten wie verhält. So behauptet Marketingprofessor Dr. Andreas Fürst im Interview mit der „Absatzwirtschaft“ (Mai-Ausgabe, Seite 15), dass es Unternehmen langfristig nicht helfe, sich in der Krise besonders empathisch und hilfsbereit zu zeigen. Am Beispiel von Erdölfirmen und der Automobilindustrie (Stichwort: Abgasskandal) argumentiert er, dass die Shopper kurzfristig zwar mit Boykotten auf Fehlverhalten reagierten, danach jedoch aus Bequemlichkeitsgründen schnell wieder zum gewohnten Konsumverhalten zurückkehrten. Nun, das erfolgreiche Geschäftsjahr von VW und die Milliardengewinne von Exxon in 2019 sprechen auf jeden Fall für diese Theorie. Ute Stoltenberg, Professorin für Nachhaltigkeitsforschung und Regionalentwicklung hingegen ist der Meinung, dass es eine Zeit der „Corona-Erinnerung“ geben werde, in der „den Menschen im Gedächtnis bliebe, wer sich in Krisenzeiten wie verhalten hat“ (Quelle ebenfalls asw Nr. 5/2020).
Durch eigene Erhebungen, in denen eine Tendenz zur abnehmenden Bedeutung von Marken festzustellen ist, bin ich davon überzeugt, dass es auf lange Sicht unerheblich ist, ob und wie Brands mit eindeutigem Bezug zur Corona-Krise kommunizieren. Viel wesentlicher und erfolgsentscheidender wird sein, die Markenpräsenz – insbesondere am POS – hoch zu halten, um Shoppern dort Orientierung zu bieten, wo und wofür sie sie benötigen: bei der Kaufentscheidung im stationären oder digitalen Handel. Orientierung zu politischen und ethischen Fragen holen sich die Menschen sicher nicht in erster Linie bei Marken. Im schlimmsten Fall werden Haltungskampagnen als soziales oder ökologisches Feigenblatt entlarvt, wenn sie zu aufgesetzt, zu weit entfernt vom eigentlichen Brand Purpose daher kommen. Ein thematisches Eigentor, mit dem Marken gegenüber ihren Mitbewerbern schnell ins Hintertreffen geraten. Diesem Rückstand hinterher zu laufen ist kräftezehrend und teuer. Ein Invest in die Kommunikation der Primärpositionierung scheint erfolgversprechender. Um noch einmal Dr. Fürst zu Wort kommen zu lassen: „Unternehmen, die den Werbedruck während der Finanzkrise hoch gehalten haben, konnten langfristige Marktanteilsgewinne erzielen“.
Denken Sie daran, wenn Sie über Ihre Werbeausgaben während und nach der Krise entscheiden!