„Wisst Ihr noch?“ – das Gestern als Geschäftsmodell

30, 50, 55 und 60 – nein, hier geht es nicht um die tagesaktuellen Corona-Inzidenzwerte unterschiedlicher Kommunen. Bei diesen Zahlen handelt es sich um etwas wesentlich Erfreulicheres, es sind aktuelle Markenjubiläen im LEH. Seit genau drei Jahrzehnten erfreut der „Entdecker Bäcker“ Ibis seine Kunden mit Backwerk, ein halbes Jahrhundert bietet Persil bereits „Unser Bestes“ an, während sich Freunde süßer Genüsse fünf Jahre länger schon an Edlen Tropfen in Nuss laben dürfen. Zurück in die Sixties entführt Zewa die Shopper kommunikativ und feiert den „Runden“ mit einer Retro-Gewinnspiel-Promotion für seine Haushaltstücher, unschwer am Jubiläums-Design zu erkennen:

Auswahl aktueller Markenjubiläen im LEH:
30 Jahre IBIS-Brötchen …
… 50 Jahre „Unser Bestes“ von Persil …
… eine Schnapszahl bei den hochprozentigen Nuss-Tropfen und …
… „Pril-Blumen“ bei Zewa zum 60.
Herzlichen Glückwunsch!

Retro nehmen wir als Anlass, uns heute mit einem interessanten Online-Angebot zu beschäftigen. Spannend für alle, die ihrer Marke vor dem Hintergrund einer glorreichen Historie neue Impulse geben und emotionales Brand Heritage von früher wieder aufleben lassen möchten.

Die Website „Wisst-Ihr-Noch?“ bietet das thematische Umfeld, um tatsächliche oder vermeintliche Kultmarken von einst neu zu präsentieren. Schmerzlich vermisste oder längst vergessene Markenkleinode erfahren dort via exklusiver Landingpage frische Aufmerksamkeit. Nach eigener Interpretation versteht sich die Facebook-Fanpage mit über 4 Millionen Fans (Unternehmensangabe) als Retrotainment-Plattform, die ein mittlerweile ausuferndes digitales Medienangebot bereitstellt. Die Beiträge auf der Seite zeichnen sich durch hochprofessionell getextete Teaser aus, die in Verbindung mit den Fotos für unmittelbaren Klickdrang sorgen.

Das Umfeld für Retro-Marken auf der Plattform
„Wisst-ihr-noch?“

Beispielhaft erwähnt sei an dieser Stelle die Referenz des Fruchtquarks „Frufoo“ von Onken, der sich in den 1990‘er Jahren breiter Präsenz in deutschen Kühlschränken und großem Zuspruch von Kindern und Jugendlichen erfreute.

Rund, mit Loch in der Mitte und Spielzeug drin:
der Original-Frufoo-Fruchtquark von Onken.

Im Rahmen eines zeitlich begrenzten Relaunchs brachte die Molkerei Emmi vor zwei Jahren eine Retro-Edition auf den Markt und unterstützte dieses Comeback mit einer Kampagne bei „Wisst ihr noch?“.

Frufoo heute: Immer noch von Onken,
nun aber mit neuem Design,
verändertem Behältnis und
Bastelideen auf der Packung:

Aus einem Pressetext des Plattform-Betreibers heißt es dazu:

„Mittels einer Onlinepetition auf einer eigens eingerichteten Internetseite konnten Fans für ein Comeback der Marke stimmen. Von August bis November 2019 wurden über mehrere Postings User immer wieder zum Mitmachen aufgefordert. Eine ganze Generation versammelte sich hier und kämpfte leidenschaftlich für die Rückkehr des Kultproduktes. Am Ende der Abstimmungsphase wurden über 425 000 Klicks für ein Comeback von Frufoo gesammelt. Dies spiegelte sich auch in der Medienberichterstattung wider: Mehr als 100 Medien mit einer Gesamtreichweite von ca. 80 Millionen Leserinnern und Lesern berichteten von der Kampagne um die Markteinführung. Insgesamt wurden allein auf Facebook 6,8 Millionen und auf Instagram 185 000 User erreicht. Über 40 000 Kommentare und Likes gab es auf Facebook. Die Beteiligung war so hoch, dass der Zählerstand gesprengt wurde, weil dieser gar nicht auf so viel Beteiligung ausgerichtet war. Insgesamt war die Online-Marketing-Kampagne zum Produktlaunch ein großer Erfolg: Teilweise war der neue Frufoo bereits nach wenigen Tagen in den teilnehmenden Märkten vergriffen. Noch vor Ende des Aktionszeitraums war das gesamte Aktionsvolumen ausverkauft.“

Thomas Weigel, Gründer der Plattform „Wisst ihr noch?“

Ein voller Erfolg also. Emmi ist es gelungen, einen Hype um die Marke neu zu entfachen und mit umfassender Kommunikation in Text, Bild und Bewegtbild einen Run am POS auszulösen.

Eine komplett runde Sache also für Frufoo in jeder Beziehung? Bewerten wir ausschließlich die beiden Marketing-Mix-Faktoren Kommunikation und Preis, hat Emmi alles richtig gemacht. Die Zahlen sprechen für sich, die Kampagne aktivierte offensichtlich sehr stark und der relativ hohe Preispunkt von ca. 2,40 € pro Artikel tat dem Absatzerfolg keinen Abbruch. Bei der (physischen) Distribution müssen wir Abstriche machen, die Nachfrage überstieg die Planmengen anscheinend signifikant. Die Schattenseite einer Marken-Wiederbelebung unter veränderten Rahmenbedingungen erkennen wir bei der Analyse vom Produkt selbst. Da finden wir in den sozialen Medien neben der Freude über die kurzzeitige Verfügbarkeit des Kult-Quarks auch – positiv ausgedrückt – zahlreiche differenzierte Kommentare zum Frufoo-Comeback:

https://www.facebook.com/Wir-wollen-den-echten-Frufoo-wieder-haben-Petition-283065725061900/?comment_id=Y29tbWVudDoyNTQyMDk5OTE1ODI1MTI1XzI1NDI0NTc5NjkxMjI2NTM%3D

Was ist hier geschehen? Nun, mit der Ankündigung einer Wiedereinführung des Kultproduktes „Frufoo“ wurden Erwartungen geweckt. Wurden Hoffnungen geschürt, dass der Artikel genauso wie „damals“ wieder erhältlich sein würde. Anscheinend war dies jedoch aus verschiedensten Gründen für die Marketingriege von Emmi nicht realisierbar. Natürlich, wir wissen. Kennen all die vermeintlichen und tatsächlichen Restriktionen, die es einem auf Effizienz und Nachhaltigkeit getrimmten Markenartikelunternehmen nicht erlauben, aufwändige Verpackungen mit integrierten Zugaben anzubieten. Verstehen auch den Ansatz der Molkereimanager, mit einer visuellen Aktualisierung und charmanten Bastelschablonen dafür einen adäquaten Ersatz anbieten zu wollen. Ob bei der Auswertung der Retro-Kampagne die positiven (Abverkaufs-) Aspekte oder die harsche Kritik enttäuschter Frufoo-Fans überwiegen, wird sich zeigen, wenn die Schweizer Molkerei eine neue Initiative zu Frufoo umsetzen sollte.

Fazit:
Der Gedanke, ehemalige „Love-Brands“ mit Hilfe einer frequenzstarken Online-Plattform und deren angeschlossenen Medien zum Hype zu machen, ist bestechend. Entsprechende Kampagnen können einen Begeisterungssturm bei den Shoppern auslösen. Wesentlich ist allerdings, dass wiederbelebte Marken die Erwartungen der Käufer ans temporär verfügbare Retro-Produkt dann auch erfüllen.