Eine für Grafiker nicht ungefährliche Berufskrankheit mit hohem Ansteckungspotenzial ist die Neigung, größere Textabschnitte in Großbuchstaben, im Fachjargon Versalien, zu schreiben. Dies steht freilich im Gegensatz zu langjährigen Erkenntnissen für professionelles Gestalten. In der Tat, leitet sich der Begriff ‚versal‘, Plural Versalien, doch ab vom lateinischen Ursprung (versus = umwenden) „hervorheben“. In der Schrift eingesetzt als Instrument des Hervorhebens einzelner Buchstaben, ganzer Wörter oder sogar Sätzen. Was geschieht, wenn Versalien inflationär eingesetzt werden und die Abgrenzung nicht mehr ersichtlich ist, machen wir uns heute beim Betrachten von ausgewählten Fachanzeigen deutlich.
Ganz neu von Harry und voll im Trend: Eiweißbrot
Unter der Bezeichnung „Protein Sandwich 20“ bringen die Schenefelder Backexperten jetzt im September zwei Produkte auf den Markt, die sich in den aktuellen Reigen besonders proteinreicher Nahrungsmittel einfügen. Neben reichlich Kohlenhydraten bieten Toastbrot und -brötchen eine extra Portion Proteine auf pflanzlicher Basis.
Angekündigt werden die eiweißhaltigen Erzeugnisse per ganzseitiger Annonce in der Fachpresse. Sehr klar und gut strukturiert kommt der Anzeigenaufbau daher: Große Headline mit dem Schlüsselwort „Protein“, gut erkennbare Produktabbildungen darunter und erläuternde Informationen im unteren Drittel, visuell unterstützt mit Siegeln und Piktogrammen. Oben links im roten Störer ist der wesentliche Hinweis enthalten, dass es sich um eine Neuheit handelt, inklusive Angabe des Launch-Zeitraums. Stringent setzen die Gestalter das grafische Merkmal des blauen Winkels von der Produktpackung als Layout-Element für die Anzeige ein. Dadurch wirkt die Komposition harmonisch und wie aus einem Guss.
die Launch-Anzeige für die Protein Sandwiches von Harry.
Perfekt also? Nicht ganz, leider sind sowohl die komplette Überschrift als auch die kleinen Sub-Headlines in Großbuchstaben gesetzt. Das macht die Anzeige zwar nicht schlecht, mindert jedoch die Wirksamkeit in Richtung eilige Leser enorm. Machen wir den Selbsttest und vergleichen die Überschrift in zwei unterschiedlichen Schreibweisen. Lassen Sie Ihren Blick über die beiden identischen Satzzeilen gleiten – welche können Sie schneller erfassen?
DIE EXTRA-EINHEIT PROTEIN. MIT PFLANZLICHEN PROTEINEN UND WENIGER KOHLENHYDRATEN.
Die Extra-Einheit Protein. Mit pflanzlichen Proteinen und weniger Kohlenhydraten.
Wenn es Ihnen wie den meisten Menschen geht, erreicht Sie die Botschaft in der unteren Zeile unmittelbarer. Sie ist weniger sperrig und arbeitet dadurch schneller.
Die kunterbunte Anzeigenwelt von Henkel
Ebenfalls in Großbuchstaben ist die Anzeige für die „Nature Box“-Artikel vom Waschmittel- und Kosmetikriesen aus Düsseldorf überschrieben. Sie ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie schwierig es wird, Texte in Versalien zu erfassen, wenn sie zudem außergewöhnliche Wörter beinhalten. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, die Menge von zwei Wörtern als Überschrift versal zu schreiben, dieser Umfang wird normalerweise sehr rasch – auch von schnellen Lesern – erfasst. Hier ist es anders, denn durch die einigermaßen außergewöhnliche Wortkreation
NATURKOSMETIKZERTIFIZIERT
im Verbund mit weiteren herausfordernden Gestaltungs- und Textelementen bleibt man im besten Falle hängen – oder blättert unverrichteter Dinge weiter.
Was macht es für die Betrachter der Annonce zusätzlich anspruchsvoll, deren Botschaft unmittelbar zu erfassen? Nun, die Layouter haben nicht nur ein Wortungetüm als Überschrift in Versalien gesetzt, sondern zusätzlich auch noch eine Schreibschrift als Designmittel verwendet. Im Verbund mit den vielen kräftigen Hintergrundfarben und den Produktpackungen unterschiedlicher Couleur entsteht ein unruhiges Anzeigenmotiv und damit eine echte Herausforderung für die Betrachter.
Farbenfroher Mix aus Schrifttypen und Grafikelementen von Henkel.
Abschließend der obligatorische Hinweis darauf, dass die Bewertung von zufällig ausgewählten Anzeigenmotiven alleine dem Ziel dient, Hinweise darauf zu geben, wie B2B-Kommunikation funktioniert – oder eben auch nicht. Basis für diese Einordnungen sind zahlreiche Werbewirkungs-Studien und die als Konsens erachteten, allgemein gültigen Regeln für effektive Gestaltung. Nur zu gut weiß ich als Praktiker von den (scheinbar) unabänderlichen Rahmenbedingungen bei der Entwicklung von Kommunikationserzeugnissen.