Sind Verbraucher die besseren Marketeers?

Vor einigen Wochen haben wir uns das Konzept der neuen Verbraucherprodukte unter dem Label „Du-bist-hier-der-Chef“ am Beispiel des Pionierartikels, der Verbrauchermilch, angesehen. Haben verstanden, dass die Initiative auf der Idee basiert, Verbraucher zu befragen, was ihnen bei einem Produkt wichtig ist, um es dann analog dieser Wunsch- und Prioritätenliste zu produzieren. Zudem geht es den Machern darum, die Endkunden für die Erzeugung von Naturprodukten zu sensibilisieren; Zitat vom Initiator der Verbraucherprodukte:

Wüssten die Verbraucher, welche Konsequenzen ihre Einkaufsentscheidungen haben, würden sie ihr Verhalten gelegentlich überdenken.

Nicols Barthelmé, Initiator der Initiative „Verbrauchermarke“

Klingt erstmal gut. Klingt sinnvoll, nachvollziehbar und vernünftig und passt zudem ganz hervorragend in die aktuelle Zeit. Eine Zeit, in der immer mehr engagierte Bürger und Interessensgruppen ihre Anliegen zu Gehör, in die sozialen Netzwerke und auf die Straße bringen. Wir denken an Fridays-for-Future“, an „Me-too“-Debatten, an Gelbwesten, an die Stuttgart21-Wutbürger oder an Solidaritätsdemos für die Seerettung von Flüchtlingen. Die Liste ließe sich ohne weiteres bis zur aktuellen Initiative gegen das Absingen des Donaulieds auf Volksfesten (gute Sache übrigens!) fortführen. Kommen wir aber zurück zur Verbrauchermarke. Trotz des im Grunde vernünftigen Kerngedankens bleibe ich als langjähriger Marketingprofi an diesem Konzept hängen. Doch was genau stört mich daran?

Der Anspruch des Marketings

Gehen Sie mit mir einen kleinen chronologischen Schritt zurück, nehmen Sie die Vogelperspektive auf dieses Thema ein und betrachten sich, worum es beim Marketing prinzipiell geht. Ich denke dabei zurück an eine meiner ersten Marketing-Vorlesungen, es dürfte in der Tat die allererste gewesen sein. „Was ist Marketing?“, fragte der Prof. Wahrscheinlich kennen Sie die Antwort bzw. die Antworten, denn die Definitionen unseres Fachgebiets sind Legion. Damals hat es unser Dozent auf die Formel gebracht: „Marketing ist die Führung des Unternehmens (der Marke) vom Markt her auf die Märkte hin“, so die Kurzform aus meiner Erinnerung. Diese Definition entspricht – über die Jahre und Jahrzehnte vielfältig abgewandelt – auch heute noch unserem Verständnis von professioneller Marken- und Unternehmensführung. Den Markt, die Verbraucher kennen und darauf basierend passende Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln und am Markt zu platzieren. Vor diesem Hintergrund also stelle ich mir die Frage: „Wozu braucht‘s eine Verbrauchermilch, wenn doch genau das der Job des Marketings sein sollte: das Angebot von Waren, die der Verbraucher wünscht?“. Haben – im Fall der Bio-Milch – die Marketing-Teams der etablierten Molkereien versagt, weil sie offensichtlich eben nicht wissen, was die Kunden wollen?

Diese Meinung vertritt nicht nur die Initiative, sondern anscheinend auch der Handel. Der Bereichsleiter „Nachhaltigkeit Ware“ bei der Rewe Group, Dirk Heim, schlägt für die Verbraucherprodukte argumentativ in die gleiche Kerbe wie die Milch-Macher:

Das Projekt ist spannend: Erstmals bestimmen die Verbraucher, welche Mehrwerte ein Produkt etwa in Bezug auf Regionalität und Tierwohl haben soll.

Quelle: Interview im „Rewe-Echo“, Nummer 07/2020

Fragen wir uns also gemeinsam: „Können das unsere Marken nicht auch?“. Sollten wir nicht in der Lage sein, die Trends bei den Verbrauchern zu erkennen und ihnen genau das anzubieten, was sie von einem Produkt erwarten? Braucht es dafür tatsächlich eine Initiative von Verbrauchern für Verbraucher? Oder sind wir im Gegenteil schon dazu in der Lage, trauen den Ansprüchen der Shopper jedoch nicht und zögern, für eine höhere Qualität einen entsprechenden Preis anzusetzen? Andere Möglichkeit: die Marketingprofis in den Molkereien kennen ihre Shopper, ihre Konsumenten sehr genau. Haben Preiselastizitäten durchgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Verbrauchermilch zu 1,45 € zwar wahrscheinlich einige Fans haben, sich aber im Regal aufgrund der kurzen MHD und des höheren Preises nicht durchsetzen wird? Wie auch immer, wir werden das „Du-bist-hier-der-Chef“-Projekt im Blick behalten. Nach einigen Monaten dürfte sich zeigen, ob die Drehgeschwindigkeit der Verbrauchermilch am POS ausreicht, um das Konzept zu tragen, oder ob kurzes MHD und daraus resultierende Abschriften Milch und Händler sauer werden lassen.